Berge im Kopf.

Seit Corona uns nicht mehr ganz so leicht in alle Welt verreisen lässt, entdecken viele Menschen die Berge als Alternative. Mehr oder weniger gut ausgerüstet sind Wanderer auf Klettersteigen unterwegs, erklimmen Gipfel, nächtigen in Berghütten. Dass Bergsteigen auch immer eine Kopfsache ist, zeigt der britische Autor Robert Macfarlane, dessen Erstling aus dem Jahr 2005 nun auch auf Deutsch vorliegt: Berge im Kopf – Geschichte einer Faszination heißt es.

Es war die Bibliothek des Großvaters, die in Robert Macfarlane die Liebe zum Wandern und Bergsteigen entfachte. Dort standen – dicht an dicht – alle berühmten Expeditionsberichte. Damals noch ein Bub, verschlang der kleine Robert all diese Geschichten, egal ob es sich um Abenteuer in der Antarktis, in den Alpen oder am Mount Everest handelte. Gemeinsam mit den mutigen Männern – denn es waren zumeist keine Frauen bei diesen Expeditionen dabei – erlebte Robert Macfarlane so manches Abenteuer.

Zitat: Ich zog meinen Schlitten durch hüfthohen Polarschnee. Ich stolperte über Schneeverwehungen, stürzte Rinnen hinab, kletterte über Grate und schritt auf Bergrücken aus. Von den Gipfeln der Berge blickte ich auf die Welt herab, als handle es sich dabei um eine Landkarte. Mindestens zehn Mal kam ich fast ums Leben.

Die schroffen Felswände, die moosgrünen Almen, die steilabfallenden Schluchten faszinierten den jungen Robert Macfarlane. Denn schon bald erkannte er, wie viel in Landschaften hineininterpretiert oder herausgelesen werden kann, wie viele Erfahrungen und Erkenntnisse die Beschäftigung mit dem Gebirge mit sich bringt.

Zitat: Die Kargheit der Landschaft, in der die Männer unterwegs waren, zog mich an – die Wüstenlandschaften der Berge und der Pole mit ihrem strengen Dualismus von Schwarz und Weiß. […] Mut und Feigheit, Ruhe und Anstrengung, Gefahr und Sicherheit, richtig und falsch: Die unerbittliche Natur ihrer Umgebung ordnete alles nach diesem binären Prinzip.

Bevor die Welt von oben betrachtet werden kann, braucht es jedoch eine genaue Planung. Schon immer waren daher Kartografen besonders angesehen, wenn es darum ging, Neuland zu erforschen. Lustvoll erzählt der Autor über das geräuschvolle Auffalten einer neu gekauften Karte, über der man die Route bereits vorab bewandern kann. 

Zitat: Karten verleihen einem Siebenmeilenstiefel, ermöglichen es, Kilometer in Sekunden zurückzulegen. Um eine geplante Wanderung oder Klettertour abzustecken, kann man mit der Bleistiftspitze über Gletscherspalten segeln, hohe Felsabbrüche mit einem einzigen Satz überwinden und mühelos Flüsse überqueren. Auf einer Karte ist das Wetter immer gut, die Sicht immer perfekt.

Es ist ein schönes Buch, das der Verlag Matthes&Seitz in der Reihe Naturkunden da herausgegeben hat. Das Cover ist – genauso wie die Illustrationen, Kartenausschnitte und Fotografien – in kühlem Blau gehalten, der Titel leuchtet in zarter silberner Schrift. Ein Buch, das man gerne angreift, das satt in der Hand liegt und dann auch noch inhaltlich überzeugt. Historische Ereignisse verquickt Robert Macfarlane mit seinen eigenen Bergerlebnissen, erzählt von Glücksgefühlen und Momenten der Angst.

Zitat: Ich merkte, dass ich mich so stark am Fels festgekrallt hatte, dass meine Fingerspitzen weiß waren. Meine Gliedmaßen zitterten und schienen kaum in der Lage zu sein, mein Körpergewicht zu halten. Mein Herz hämmerte. Aber es war vorbei. Ich nahm mir wieder einmal fest vor, niemals mehr ins Hochgebirge zurückzukehren.

Natürlich ist er bald darauf wieder auf einen Berg geklettert. Bestiegen werden Berge seit rund 300 Jahren, davor hätte sich kaum jemand zum Vergnügen die Mühe gemacht, einen Gipfel zu erklimmen. Berge waren unbrauchbar für die Landwirtschaft, waren weit entfernt von der Erhabenheit, die ihnen heute zugesprochen wird. Anhand von Literatur, Reiseberichten, Malerei und Philosophie zeichnet Robert Macfarlane eine Kulturgeschichte des Alpinismus. Neben den furchtlosen Gipfelbezwingern geht es in diesem Buch aber vor allem darum, was Berge in uns auslösen.

Zitat: Der Blick von einem Gipfel macht stark. Auf gewisse Art löscht er einen aber auch aus. Das Bewusstsein wird gestärkt durch die erweiterten Fähigkeiten des Sehens, aber es wird auch angegriffen von der bedrohlichen Erkenntnis der eigenen Bedeutungslosigkeit angesichts der großartigen Blicke auf Zeit und Raum, die von der Spitze eines Berges offenbart werden.

Robert Macfarlanes „Berge im Kopf“ lassen uns Gebirge ein bisschen anders sehen. Die eigene Verletzlichkeit im Gegensatz zur Wucht des Felsmassivs. Von unten wirkt der Gipfel weit weg, doch ist er erreicht, sind alle Mühen vergessen. Und wer den Abgrund überwindet, wird auch andere Probleme leichter meistern. Man kann dieses Buch in den Bergen lesen. Muss man aber nicht.

Info: Robert Macfarlane Berge im Kopf. Geschichte einer Faszination aus dem Englischen von Gaby Funk (Matthes&Seitz, Naturkunden 2021)