Crazy Horse.

„Als er das Seepferdchen erschuf, war Gott wahrscheinlich besoffen“, sagt ein Meeresbiologe im Buch Crazy Horse von Till Hein. Und man mag ihm zustimmen, sind doch diese Tiere tatsächlich alles andere als gewöhnlich. Sie bewegen sich extrem langsam, sie können sich mit ihrem Schwanz so fest anklammern, dass selbst die stärksten Fressfeinde sie nicht losbekommen, sie gelten als Wundermittel gegen Haarausfall und Seitenstechen, die Männchen werden schwanger und bringen bis zu 2000 Jungtiere zur Welt. Dies und noch viel mehr hat der Autor in seinem Buch zusammengetragen.

Till Hein ist ein Fischfreund. Seit vielen Jahren portraitiert er für das Hamburger mare-Magazin seltsame, seltene oder außerordentliche Flossentiere:  den Schleimaal, den Eishai – und eben auch das Seepferdchen. Den Anstoß, ein Buch über diese Tiere zu schreiben, gab aber nicht ein Tauchgang mit einer zauberhaften Begegnung, ganz im Gegenteil, das erste Mal, dass er ein Seepferdchen außerhalb eines Zoos sah, war auf einem Markt in Peking. Dort lag das Pferdchen bereits recht knusprig auf dem Grill. Vom Geschmack war Till Hein nicht überzeugt, doch die Neugier war geweckt. Und so macht sich der Autor auf eine unterhaltsame und informative Reise, besucht eine Seepferdchen-Züchterin und diverse Seepferdchen-Forscher, und folgt der noch nicht restlos geklärten Entstehungsgeschichte der Tiere, um die sich viele Sagen, Mythen und Märchen ranken. Die kleinsten Seepferdchen sind kleiner als ein menschlicher Fingernagel, die größten erreichen eine Länge von bis zu 35 Zentimeter.

Zitat: Viele können ihre Farben nach Lust und Laune wechseln: von Taubenblau zu Moosgrün etwa, oder von Purpurrot mit pinkfarbenen Knubbeln zu Gelb mit orangefarbenen Höckern. Andere Spezies zeigen entweder schwarze Streifen, gelbe Punkte oder ein grün-graues Camouflage-Muster.

Der Name Seepferdchen, also Hippocampus kommt aus dem altgriechischen. Hippos ist das Pferd, Kampos bedeutet Seeungeheuer. Und der Kopf ähnelt ja wirklich einem Pferd, während der Schwanz etwas von einem Drachentier hat.

Zitat: In Wirklichkeit aber gehören sie ins Reich der Fische, auch wenn das auf den ersten Blick – schon mangels Schuppen – nicht so aussehen mag.

Obendrein können diese kleinen Tiere einige Dinge, die ihre fischigen Verwandten nicht können. Sie bewegen sich als einzige Fische vertikal durchs Wasser, was ihnen auch diese eigenartige Anmut verleiht. Und was sie besonders gut können ist, sich festhalten. Dazu benutzen sie ihren starken und beweglichen Greifschwanz.

Zitat: Er ersetzt die Schwanzflosse, mit der die große Mehrzahl der Fische beim Schwimmen durch Seitwärtsbewegungen Vortrieb erzeugt. Statt um vorwärtszukommen, nutzen Seepferdchen ihre hintere Körperhälfte denn auch lieber, um herumzuhängen, im wahrsten Sinne des Wortes.

Der kräftige Schwanz inspiriert sogar schon Forscher im Bereich Robotik, wo Greifarme mit Seepferdchen-Technik vielleicht bald Wirklichkeit werden. Was Seepferdchen aber ganz besonders macht, ist ihre Fortpflanzung. Nicht nur, dass der Liebesakt von ergreifender Schönheit ist – der Liebestanz kann viele Stunden dauern – sind es schließlich die männlichen Tiere, die die befruchteten Eizellen in ihrem Brutbeutel austragen. 

Zitat: In der Bauchtasche des werdenden Vaters wachsen die Eizellen in einer Art Fruchtwasser heran, dessen chemische Zusammensetzung anfangs an die Körperflüssigkeit adulter Seepferdchen erinnert. Im Verlauf der Schwangerschaft aber nähert das Fruchtwasser sich in chemischer Hinsicht immer stärker dem (stark salzhaltigen) Meerwasser ihres späteren Lebensraums an – was den Geburtsschock für die heranreifenden Jungtiere mildert.

Dass Seepferdchen als Heil- und Wundermittel gegen zahlreiche Wehwehchen herhalten müssen – getrocknet, in Schnaps eingelegt oder zu Pulver verrieben – ist ein weiterer Aspekt, dem sich der Autor in seinem Buch widmet. Nach all den Geschichten, die es über Seepferdchen zu erzählen gibt, sind die letzten drei Kapitel der Sorge um das Wohl und das Überleben der Tiere gewidmet. Zu viele Seepferdchen landen als Beifang in Schleppnetzen. Und nicht nur das.

Zitat: Selbst wenn die Schleppnetzfischerei heute weltweit verboten würde, wäre ihre Zukunft nicht gesichert. Denn die Lebensräume der Seepferdchen schrumpfen bedenklich: seien es Mangrovenwälder, Seegraswiesen, Riffe oder von Weichkorallen geprägte Gebiete. Mehr und mehr Habitate dieser so besonderen Fische werden gerodet oder trockengelegt.

Magisch blau leuchtet das Seepferdchen am Cover dieses schönen Buches. Der Schreibstil ist locker, die Informationen wissenschaftlich fundiert, Till Heins Texte über die schwerhörigen Faulpelze, launischen Vielfraße und treuen Liebenden lassen immer wieder erstaunt innehalten, schmunzeln oder ungläubig den Kopf schütteln. Es ist tatsächlich eine verrückte Welt, die Welt der Seepferdchen.

Info: Crazy Horse von Till Hein (mare 2020, 1. Auflage 2021)