Lieferketten.

Woher kommen unsere Lebensmittel? Wie weit sind sie gereist, bis sie in den Supermärkten in den Regalen liegen, und unter welchen Bedingungen wurden sie produziert? In seinem neuen Buch „Lieferketten“ beschäftigt sich der Wirtschaftsjournalist, Dozent und Autor Caspar Dohmen mit diesem Thema. Da geht es um Wertmaximierung, Nachhaltigkeit, gesetzliche Regelungen und faire Arbeitsbedingungen. An zahlreichen Beispielen zeigt der Autor, wer die wenigen Gewinner und die sehr vielen Verlierer im Bereich der weltweiten Produktion sind.

Ein Containerschiff, von oben fotografiert – das Cover des Buches erinnert sofort an die Evergiven, die erst kürzlich den Suezkanal blockierte und damit den Warenfluss auf der ganzen Welt ins Stocken brachte. Warum lassen Firmen ihre Waren woanders produzieren? Welchen Einfluss haben die einzelnen Staaten? Und was ist von Lieferkettengesetzen zur Einhaltung von Menschenrechten zu halten? Diese und viele weitere Fragen versucht der Autor in seinem Buch zu beantworten. Die Lage ist jedenfalls kritisch.

Zitat: Noch immer sterben offiziell jeden Tag rund 6.000 Menschen bei oder infolge ihrer Arbeit, mehr als im Krieg. Viele arbeiten hart in den Lieferketten und sind trotzdem unter- oder fehlernährt. Alle 3,6 Sekunden verhungert ein Mensch. Menschenverachtende Arbeitsverhältnisse gibt es dabei durchaus nicht nur in der Ferne, sondern auch mitten in Europa.

Haben im 19. Jahrhundert große Industrieanlagen noch fast alle Arbeitsschritte selbst und an einem zentralen Standort erledigt, so veränderten sich diese Strukturen im Lauf der Jahrzehnte zu dezentralen Produktionsstätten. Am stärksten von Ausbeutung bedroht sind die schwächsten Glieder der Lieferkette, nämlich die Arbeiterinnen und Arbeiter, die Textilien nähen oder Bestandteile von mobilen Endgeräten oder Fahrzeugen fertigen.

Zitat: Oberstes Ziel von Konzernen wie Amazon, BMW oder Nestlé ist es nicht, anderswo Arbeitsplätze zu schaffen oder die wirtschaftliche Entwicklung an bestimmten Orten zu fördern, wie gerne behauptet wird. Oberstes Ziel für Unternehmen in einer kapitalistisch organisierten Wirtschaft ist es, die eigene Wertschöpfung zu maximieren und einen möglichst hohen Gewinn zu erzielen.

Als eine Art Wendepunkt im Umgang mit Lieferketten gilt das verheerende Unglück im April 2013 in Bangladesh: Das Industriegebäude Rana Plaza, acht Stockwerke hoch, Textilarbeiterinnen und Arbeiter dicht an dicht. Weil die Bauvorschriften umgangen wurden, stürzte das Gebäude komplett in sich zusammen.

Zitat: 1.134 Menschen starben, mehr als 2.400 wurden verletzt oder verstümmelt. Trotzdem wäre das schwerste Unglück in der Geschichte der Textilindustrie wohl nicht auf die globale Agenda gelangt, wenn nicht neben den Leichen die Label diverser Modemarken zu sehen gewesen wären. […] Benetton aus Italien, Mango aus Spanien, KiK aus Deutschland gehörten dazu.

Plötzlich waren die Produktionsstätten im Fokus, die Bilder der Trümmer in allen Zeitungen. Konsumentinnen und Konsumenten waren empört, als die Arbeitsbedingungen bekannt wurden. Es schien, als könnte sich tatsächlich etwas ändern. Und in manchen Bereichen hat sich etwas getan, meint der Autor.

Zitat: Einige Staaten griffen rigoros in den Arbeitssektor ein und schufen Regularien für Arbeitsverträge, Kündigungsfristen, Mindestlöhne, Urlaubs- und Krankengeld und vieles mehr. Aber es entschieden sich keineswegs alle Gesellschaften für die gleichen Maßnahmen beziehungsweise im gleichen Umfang dafür.

Man muss sich gut auskennen in Sachen Wirtschaft, Finanzen und Produktion, um bei der Lektüre dieses Buches mitzukommen. Denn Caspar Dohmen packt viele Einzelheiten und Informationen in seine Sätze. Manchmal wünscht man sich eine Landkarte, um nachvollziehen zu können, welche Wege gerade beschrieben werden, auch die eine oder andere Tabelle würde wohl helfen. Doch dann gibt es immer auch Textstellen, in denen der Autor von seinen Reisen und persönlichen Eindrücken erzählt. Er hat sich eine Kakaoplantage in Elfenbeinküste angesehen, eine Kaffee-Kooperative in Kolumbien, er war in China, Pakistan und Indien.

Zitat: „Keine Kinderarbeit“ steht auf einem roten Schild an der Einfahrt des Familienunternehmens […]. Dahinter gehe ich an einem kleinen Hindutempel vorbei in die Fabrik. Nähmaschinen rattern, Ventilatoren kreiseln. Ein Arbeiter zeichnet mit Kreide auf einem dicken Stapel Stoffe die Silhouette der Vorderseite eines T-Shirts auf. Ein anderer streift sich einen Metallhandschuh über und führt eine Bandsäge entlang der Kreidelinie.

Durchatmen und dann geht es wieder voll konzentriert weiter mit des Autors Ausführungen. Arbeitsdruck, knallharte Preisverhandlungen, Menschenrechtsverletzungen. Wirklich hoffnungsfroh ist Caspar Dohmen nicht. Denn auch wenn es immer wieder Initiativen gibt, um die Situation zu entschärfen oder zumindest erträglich zu machen, saubere und soziale Lieferketten, so wie sie sich der Autor in seinem Kapitel „Perspektiven“ wünscht, scheinen in unserer konsum- und gewinnorientierten Welt in weiter Ferne.

Info: Caspar Dohmen „Lieferketten“ (Wagenbach 2021)