Piraten.

Piratengeschichten beflügeln unsere Fantasie– und zwar nicht erst seit „Fluch der Karibik“. Wilde Männer und Frauen, die sich nicht an Regeln halten, aber dennoch irgendwie sympathisch sind, versteckte Goldschätze, abenteuerliche Irrfahrten, charismatische Rebellen. Der vor drei Jahren verstorbene Anthropologe und Schriftsteller David Graeber ist überzeugt davon, dass Piraten nicht nur schockierten, sondern auch die europäischen Eliten mit revolutionären Ideen inspirierten. Nachzulesen in Graebers letztem und nun posthum erschienenem Buch mit dem Titel Piraten. Auf der Suche nach der wahren Freiheit.

David Graeber, Anarchist, Kritiker des Westens und Vordenker der „Occupy Wallstreet“-Bewegung, der bereits mit seinem Buch „Anfänge“ für Aufregung sorgte, wechselt auch in diesem Buch provokant die Perspektive. Denn – und das versucht er auf rund 200 Seiten zu erläutern – für ihn liegen die Wurzeln der Aufklärung nicht in Europa, sondern an den Küsten der Insel Madagaskar. Dort wo Seeschlachten geschlagen und mit Diebesgut aller Art Handel getrieben wurde, wo Spione und Betrüger unterwegs waren und Fantasiekönigreiche entstanden. Eines davon, das legendäre Libertalia, eine egalitäre Republik, von Piraten erschaffen und von aufklärerischen Gedanken durchzogen, steht im Mittelpunkt von Graebers Ausführungen. 

Zitat: Mit diesem kleinen Experiment in Sachen Geschichtsschreibung möchte ich zumindest deutlich machen, dass die vorliegenden Erzählungen nicht nur zutiefst fehlerhaft und eurozentrisch, sondern auch unnötig ermüdend und langweilig sind.

Der Autor stellt von vornherein keinen Wahrheitsanspruch, vieles ist Spekulation, es gibt kaum Quellen, die die Thesen dieses Essays stützen. Die Existenz von Libertalia erwähnte ein gewisser Captain Charles Johnson in seinem Buch „Eine allgemeine Geschichte der Piraten“ aus dem Jahr 1728, vermutlich handelt es sich hier um ein Pseudonym des englischen Autors Daniel Defoe. Und hier zeigt sich Graebers Misere in Sachen Quellenlage.

Zitat: Für einen Zeitraum von etwa 100 Jahren, ab dem Ende des 17. bis gegen Ende des folgenden Jahrhunderts, war die Ostküste Madagaskars der Schauplatz eines Schattenspiels von legendären Piratenkönigen, von Gräueltaten von Piraten, von Piraten-Utopien, allesamt umrankt von Gerüchten, von denen sich die Gäste in Kaffee- und Wirtshäusern der Anrainerstaaten des Nordatlantiks schockieren, inspirieren und unterhalten ließen. Aus unserer heutigen Perspektive ist es absolut unmöglich, diese Berichte zu entwirren und eine definitive Erzählung zu schaffen, die klarstellt, welche Geschichten der Wirklichkeit entsprachen und welche nicht.

Graebers Buch ist in drei Teile gegliedert, im ersten erzählt er die äußerst spannende Geschichte der Piraterie an den Küsten Madagaskars, führt etwa aus, dass auf Piratenschiffen der Kapitän für eine bestimmte Dauer gewählt wurde und die volle Befehlsgewalt nur bei Gefechten hatte. Im zweiten Teil versucht er, die Geschehnisse aus madagassischer Sicht zu beleuchten – Graeber selbst betrieb um 1990 auf der Insel Feldforschung. Hier gilt es sehr aufmerksam mitzudenken, die Clan-Hierarchie und die vielen madagassischen Namen sind teilweise sehr verwirrend. Der dritte Teil trägt den Titel „Piraten-Aufklärung“, hier legt der Autor schließlich seine Thesen dar. Er weist auf die Stellung der Frauen in jener Zeit hin und auf die Wichtigkeit der madagassischen Konversations-Kultur. Denn aus ihr – so ist der Autor überzeugt – entstand ein historisch verbrieftes Königreich, das Betsimisaraka-Bündnis von 1720 mit seinem Anführer Ratsimilaho, Sohn einer Madagassin und eines englischen Piraten.

Zitat: Die Konstruktion des Bündnisses, in dessen Zentrum der Schein-Autokrat stand, der in Wirklichkeit nur im Kampf Befehlsgewalt hatte, mit den Piraten-Eiden und den demokratisch getroffenen Entscheidungen, entwickelte sich vor allem aus diesen Gesprächen.

Der Stil Graebers ist in diesem Text etwas holprig, inhaltliche Wiederholungen hätten durch das Lektorat vermieden werden können, auch die ständigen Hinweise auf das, was noch folgen werde – Graeber verwendet gerne die Formulierung „was wir noch sehen werden“ – bremsen den Lesefluss. Doch David Graebers Gegengeschichte der Aufklärung ist keineswegs nur ein Gedankenexperiment. Die freiheitsliebenden Piraten waren vielleicht tatsächlich Vorreiter in Sachen Demokratie. Sollten wir unsere eurozentrische Geschichts-Brille einfach einmal absetzen? Denn auch wenn das egalitäre Libertalia vermutlich reine Erfindung ist, ist es dennoch schön, sich vorzustellen, dass es diesen Ort irgendwann einmal gegeben hat.

Info: David Graeber Piraten. Auf der Suche nach der wahren Freiheit (Klett-Cotta 2023)