Flaschenpost.

Wer kennt sie nicht, die Geschichte von den Gestrandeten auf einer einsamen Insel, die als letzte Hoffnung eine Flaschenpost auf den Weg schicken und tatsächlich gerettet werden. In Wirklichkeit hofft man wahrscheinlich vergeblich auf Antwort auf den verzweifelten Hilferuf. Denn Meeresströmungen, der Wind und anderes Unbill treiben die Nachrichten vielleicht gänzlich in die falsche Richtung. Dass das auch nützlich sein kann, zeigt ein legendäres Experiment, das den Kern des Buches Flaschenpost von Wolfgang Struck ausmacht.

1864 lässt der Physiker und Polarforscher Georg Neumayer die erste von 6.500 Flaschenposten an einem zuvor festgelegten Ort ins Meer werfen. Er möchte anhand der wiedergefundenen Nachrichten herausfinden, wie sich Meeresströmungen verhalten. Die Nachrichten, die ihren Weg über teilweise kuriose Umwege zurück in die Deutsche Seewarte in Hamburg finden, klebt Neumayer in Alben. Und überlegt, welchen Weg die jeweilige Flasche genommen haben könnte.

Zitat: Nehmen wir nun an, dass die ersten tausend Meilen in 25 Tagen zurückgelegt wurden und dass sie ferner die letzten 5400 Meilen, von dem Punkte an, wo sie die Strömung nach Osten berührte, bis Australien, mit etwa 20 Meilen per Tag zurücklegte, so bleiben noch 765 Tage für die Zeit innerhalb der antarktischen Drift, welche sie mit Nord- und Südwärtsziehen verbrachte, bis sie endlich so weit nach Osten vorgerückt war, dass sie das im September 1866 nordwärts ziehende Eis jener Ostströmung zuführen konnte.

Klingt kompliziert und ist es auch. Denn obwohl die Weltmeere von Strömungen durchzogen sind, nehmen Flaschenposten eher selten den direkten Weg zu ihrem von vornherein unbekannten Ziel. Eine gute Idee, gleich zu Beginn des Buches eine Weltkarte aus dem Jahr 1849 zu zeigen, auf der die Meeresströmungen eingezeichnet sind. Da kann man sich wenigstens ein bisschen orientieren.

Herzstück des überaus gut recherchierten und klug geschriebenen Buches sind 15 als Faksimile abgebildete Seiten aus Neumayers Alben. Die exzellente Qualität ermöglicht es, jedes Detail der alten Handschriften zu entziffern. Hier finden sich zunächst die trockenen Daten, Flaschenpost Nummer 278 zum Beispiel war ein Jahr lang unterwegs und hat 2759 Seemeilen zurückgelegt.

Zitat: Ausgesetzt am 3. Februar 1889, 27°17´ N, 16°35´W, an Bord des Dampfschiffes Valparaiso, Hamburg (Kapitän F. Rohlfs), auf der Fahrt von Lissabon nach Bahia; gefunden im Februar 1890, 18° 5´N, 65°25´W, von William Harris an der Südostküste der Insel Vieques (Puerto Rico).

 Und dann sind da noch handgeschriebene Nachrichten der Finderin oder des Finders. Diese sind zwar von wenig oder gar keinem wissenschaftlichen Nutzen, geben der Sammlung aber einen emotionalen, fast sentimentalen Charakter.

Zitat: Die Flasche wurde auf dem Sande rollend von einem Schergen gefunden. Wie dieser Zettel beweist, war der Verschluss der Flasche intakt geblieben. Es hatten sich äußerlich im Boden der Flasche und im Halse, in der Nähe des Korkens und an diesem selbst Mollusken und Muscheltierchen angesiedelt.

„Eine aus Flaschenposten konstruierte Geschichte ist eine Geschichte der Fragmente, der Anekdoten, der Momentaufnahmen, der kleinen Szenen.“ So formuliert es Wolfgang Struck. Und macht sich auf die Reise in die Vergangenheit, ergründet die große Symbolkraft der Flaschenpost und beschäftigt sich in seiner Rolle als Germanist mit literaturgeschichtlichen Betrachtungen. Er zitiert Joachim Ringelnatz, Paul Celan, Charles Dickens und Hans Christian Andersen, in dessen Märchen „Der Flaschenhals“ es um eine Flasche geht, die schließlich im Meer landet und dort herumtreibt.

Zitat: Es ist nicht nur Ironie, dass die Flasche völlig den Kräften der Natur unterworfen und doch ihre eigene Herrin sein soll. Sie teilt diese doppelte Bestimmung mit den wissenschaftlichen Flaschenposten, die nur dann ihre Aufgabe erfüllen, wenn sie sich der menschlichen Kontrolle entziehen und zum Teil der Natur werden, über die sie Wissen produzieren sollen. Sie sind Kundschafter, die sich aus der Welt ihrer Herkunft lösen müssen, um Neues zu erfahren.

Auch wenn die maritime Strömungsforschung – derentwillen Neumayer seine Flaschenposten ja ausgesetzt hatte – in Wolfgang Strucks Ausführungen vielleicht etwas zu kurz kommt, so beschäftigt sich der Autor in diesem schön gemachten Buch mit vielen anderen Aspekten, Überlegungen und Theorien. Wer dieses Buch gelesen hat, wird beim nächsten Strandspaziergang besonders aufmerksam nach angeschwemmtem Strandgut Ausschau halten.

Info: Wolfgang Struck Flaschenpost. Ferne Botschaften, frühe Vermessungen und ein legendäres Experiment (mareverlag 2022)