Das Zuhause.

Wo sind wir zu Hause? In dem Land, in dem wir geboren wurden? In der Wohnung, in der wir gerade leben? Bei den Menschen, die wir lieben? Oder ist die ganze Welt unser Zuhause? Der italienische Philosoph und Autor Emanuele Coccia hat sich über den, für die meisten wichtigsten Ort der Welt, an den wir uns zurückziehen und wo wir zur Ruhe kommen können, eine Menge sehr gescheite Gedanken gemacht.

Vor fast drei Jahren zwang uns Covid, die eigenen vier Wände zumindest eine Zeitlang nicht zu verlassen. Plötzlich war die Welt ganz klein. Wir stellten uns auf die neue Situation ein, definierten neue Bereiche in unserem Heim. Wir begannen aufzuräumen, auszumisten, herumzusortieren. Damals hatte Emanuele Coccia bereits damit angefangen, sich mit dem Zuhause philosophisch auseinanderzusetzen, er fand im privaten, scheinbar so vertrauten Raum ein Thema, das die Philosophie bisher sträflich vernachlässigt hat.

Zitat: Indem sie das Zuhause vergessen hat, hat die Philosophie sich selbst vergessen. Dabei war diese vernachlässigte Sphäre die Brutstätte der meisten Ideen, die sich auf den Planeten und seine Geschichte ausgewirkt haben. In diesem Raum, der sogar in ein und derselben Stadt ganz unterschiedliche Formen annehmen kann, wird das Fleisch zum Wort.

In vierzehn Kapiteln nähert sich der Autor seinem Thema. Wandert durch Gänge und Zimmer, kramt in Schubladen, wirft indiskrete Blicke in Kleiderkästen. Jedes Kapitel wird durch eine persönliche Anekdote oder Erinnerung eingeleitet. Da geht es zum Beispiel um die vielen Übersiedelungen des Autors, und das „sich jedes Mal zu eigen Machen“ des neuen Wohnraumes. Emanuele Coccia auf der Suche nach dem Glück.

Zitat: Genau das ist ein Zuhause: der erste und niemals fertige Entwurf einer Überlappung unseres Glücks mit der Welt. Es ist der Ort, an dem die Moral bekennen muss, dass sie sich nicht nur mit Willen und Charakter, Gerechtigkeit und Glück, Taten und Tugenden befassen kann, sondern die Welt in ihrer schlichtesten, materiellen Dimension erfassen muss. 

Der Autor erzählt auch von einer Wohnung in Berlin, mit ungeheizter Toilette am Gang und der Duschkabine in der Küche. Wo ist die Grenze zwischen Privatheit und Öffentlichkeit? Wo finden wir unser Ich? – fragt der Autor und merkt an, dass wir uns – um unser Dasein erträglich zu machen – jeden Tag aufs Neue finden müssen. Ob wir das besser im Schlafzimmer oder im Badezimmer tun? Und was hat unser kleines Leben, unser Zuhause, mit dem Lauf der Welt zu tun? Mehr als wir ahnen, denn – so schreibt Emanuele Coccia – die Zukunft des Planeten könne nur im häuslichen Ambiente liegen. 

Zitat: Wir bauen Häuser, um in gemütlicher Form den Teil der Welt zu beherbergen, der für unser persönliches Glück unerlässlich ist. Und dazu gehören nicht nur Menschen, Tiere, Pflanzen und Gegenstände, sondern auch Ereignisse, Erinnerungen, Vorstellungen und eine bestimmte Atmosphäre.

Dass die globale Welt längst in unser Zuhause eingedrungen ist, behandelt der Autor im Kapitel über Soziale Medien. Er sieht sie als eine Erweiterung unseres Zuhauses.

Zitat: Sie sind nicht nur zu unserem neuen Zuhause geworden, einem Ort, durch den wir die soziale und menschliche Welt bewohnbar machen, sondern sie sind auch das visuelle und literarische Mittel, durch das wir überall zuhause sein können. Zugleich sind Facebook und Instagram jedoch Paradoxien, denn sie verkörpern eine Realität, die interpretiert, inszeniert und zur Fiktion werden muss, um realer zu sein, als sie ist.

Und so fabuliert sich der Autor geschickt und wortgewaltig durch sein Zuhause. Bis er an jenem Ort ankommt, der für viele Menschen zweifelsohne der zentrale Ort ihrer Wohnung ist. Die Küche. Die Welt ist eine Küche, und wir sind die Köche der Welt, so sieht es Emanuele Coccia. Hier ist es gesellig, hier wird gekocht, hier findet Veränderung statt.

Zitat: Bei jeder Mahlzeit weihen wir uns gegenseitig in ein Mysterium ein, an dem der gesamte Kosmos teilhat. Keine der Zutaten – seien es nun Zwiebeln, Tomaten, Fleisch, Weizen oder der eigene Körper – verlässt die Küche so, wie sie hineingelangt ist.

Auch wenn viele der Ansätze Coccias hochinteressant und vieldeutig sind, so ist dieses Buch – aufgrund des doch recht geschwollenen Schreibstils des Autors – ein mitunter recht mühsames Vergnügen. Oft wird mehrfach um die Ecke gedacht, manchen Gedankengängen ist äußerst schwer zu folgen. Manchmal hilft es, in sich selbst hineinzuhören. Oder das Buch wegzulegen und sich im eigenen Wohnraum umzusehen. Denn – so ist der Autor überzeugt – nur, wenn wir uns mit unserem eigenen Zuhause auseinandersetzen, es verstehen und schützen, werden wir schlussendlich die Erde als unser wahres Zuhause erhalten können.

Info: Emanuele Coccia Das Zuhause. Philosophie eines scheinbar vertrauten Ortes, aus dem Italienischen von Andreas Thomsen (Carl Hanser Verlag 2022)