Dimensionen, 19. Februar 2014
Zuhören, nachfragen, erzählen - brauchen Ärzte eine
narrative Kompetenz? Und inwieweit kann die Narrationsforschung dazu beitragen,
die Sprachlosigkeit zwischen den Disziplinen zu überwinden?
Alexander Kiss: "Die Fähigkeit von Medizinern ist nicht,
dass sie mit allen unglaublich empathisch sind oder so, sondern dass sie die
Fähigkeit haben, sich ein Stück weit auf den jeweiligen individuellen Patienten
einzustellen. Es gibt Patienten, die möchten einen Arzt haben, der wie ein
Mechaniker ist, sie fahren den Körper in die Reparaturwerkstätte, und sie
wollen mit ihm nicht irgendwelche psychosozialen Sachen austauschen. Und andere
wollen das sehr wohl, und die Fähigkeit, sich auf sehr unterschiedliche Leute
einzustellen, das halte ich für eine Kompetenz.
Hermann Toplak: "Wenn wir Patienten gut betreuen
wollen, müssen wir verstehen, wie und warum Menschen etwas tun, was die Dinge
sind, die sie prägen im Hintergrund, die sie motivieren Dinge zu tun, weil dann
und nur dann verstehe ich auch die Sprache des Patienten besser. Ich kann mir
aus dem, was mir der Patient erklärt, mehr ableiten. Auf der anderen Seite weiß
ich dann, mit welcher Sprache ich den Patienten dann auch vielleicht wieder
treffen werde, bzw. ihm helfen werde, das, was er vielleicht vorhat oder noch
gar nicht vorhat, letztlich zu tun."
Spricht der
Arzt mit dem Patienten über dessen Diagnose, bleibt beim Patienten oft ein
Gefühl der Überforderung. Er versteht die Sprache des Mediziners nicht. Laut
einer Studie des Ludwig-Boltzmann-Instituts aus dem Jahr 2012 tut sich ein
Viertel der Österreicher mit medizinischen Informationen schwer. Stress, Angst,
Ungeduld oder gar Desinteresse lassen die Gedanken während des Gesprächs
abschweifen, die Konzentration lässt nach.
Spricht der
Patient mit dem Arzt über seine Probleme, bleibt beim Arzt oft ein Gefühl der
Ohnmacht. Er kann mit der Geschichte seines Patienten nichts anfangen, ihm
fehlen die technischen und kommunikativen Mittel, um diesem Menschen zu helfen.
Was macht denn nun einen guten Mediziner aus? Hermann Toplak, Internist an der
Universitätsklinik Graz:
"Er muss viele Fähigkeiten besitzen.
Einerseits muss er möglichst viele komplizierte Dinge verstehen lernen,
andererseits muss er genau wieder komplizierte Dinge einfach rüberbringen,
sodass es auch der Patient verstehen kann. Nur dann kann man letztlich die
Kette schließen vom Wissen bis zum Tun des Patienten."
Alexander
Kiss, Chefarzt für Psychosomatik am Universitätsspital Basel, formuliert es so:
"Die Basis ist immer sein fachliches Wissen,
also das ist das Fundament. Und das ist auch das Problem, dass viele Leute, die
so den Geist und Menschlichkeit hineinbringen wollen, vergessen, dass die Basis
immer das fachliche Wissen ist. Das Menschliche ist, glaube ich, auch sehr
unterschiedlich, auch in welcher Fachrichtung man ist. Wenn ich weiß, es gibt
einen Chirurgen, der kann eine ganz spezielle Technik und die anderen können
das nicht, und ich muss einmal operiert werden und das Problem ist gelöst, dann
werde ich diese fachliche Kompetenz extrem hoch hängen und seine menschliche,
da werde ich sehr verzeihlich sein. Wenn ich eine chronische Krankheit habe,
die nicht heilbar ist – und das ist fast die gesamte innere Medizin – dann
möchte ich einen Arzt haben, der fachlich kompetent ist, das ist keine Frage,
aber zusätzlich eine menschliche oder psychosoziale oder wie immer man das
nennen möchte, der einfach nicht nur den Körper sieht, sondern den Mensch, der
an der Krankheit leidet, den Leidenden."
In der
Praxis erleben Patienten ihre Ärzte jedoch oft als wenig kommunikativ, bei der
Visite ist kaum Zeit, immer wartet bereits der nächste Patient im Wartezimmer,
müssen Formulare ausgefüllt und administrative Tätigkeiten erledigt werden. Zum
Teil habe das auch noch immer mit einem Menschenbild zu tun, das
naturwissenschaftlich reduktionistisch geprägt ist, erklärt Josef Egger. Er ist
Professor für Biopsychosoziale Medizin in Graz:
"Die Grundidee dieser eher einseitig
orientierten naturwissenschaftlichen Medizin ist ja, dass der Körper als
komplexe Maschine verstanden werden will und auch entsprechend repariert werden
will. Die Reparaturmedizin ist also das Basismodell dieser Medizin. Das ist
aber jetzt nicht nur eine Sache, die von Ärzten lange Zeit getragen und
mitgetragen wurde, nach wie vor möchte eine Großteil der Patientenschaft, wenn
sie in die Medizin kommen und ein Leid vorbringen, repariert werden. Also es
ist nicht so, dass das nur eine einseitige Geschichte ist. Was sich allerdings
herausgestellt hat über die Jahrzehnte – und die Datenmenge ist dafür enorm gut
– ist, dass wir insbesondere bei chronischen Erkrankungen mit diesem
Reparaturmodell viel zu kurz greifen, und dass wir bei einer Gruppe von
Störungen, die wir organisch nicht ausreichend erklären können, die aber sehr
viel Leid verursachen, den sogenannten somatoformen Störungen, also körperlich
nicht ausreichend erklärbaren Störungen, mit diesem Modell nicht wirklich
weiter kommen."
Es geht also
um andere, zusätzliche Kompetenzen: zuhören, sich in jemanden hineindenken,
fördern, begleiten. Mittlerweile sind soziale Faktoren maßgeblich am Entstehen
von Krankheiten beteiligt: Stress, Druck am Arbeitsplatz, Probleme mit dem
Partner. Der Patient leide dann etwa unter Schlafstörungen, Magendrücken oder
Übergewicht, sagt Hermann Toplak:
"Wir sehen, dass gewisse Laborwerte zB
verändert sind, wie das bei den Blutfetten oder beim Diabetes der Fall ist. Der
Patient kommt aber mit seinem Leben bei der Tür herein und hat daran nur sehr
wenig Interesse und schon gar kein Interesse, sein Leben in irgendeiner Form anzupassen,
zu verändern."
Der
menschliche Mediziner muss sich damit wohl auch in Zukunft verstärkt
auseinandersetzen. Die Grenzen zwischen den Disziplinen verwischen - zwischen
Natur und Kultur, zwischen Biologie und Gesellschaft. Es ist die Grenze
zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, zwischen Körper und Geist. Hermann
Toplak:
"Das Eine ist jetzt zB so, dass in der Universität,
wo die Forschung stark im Vordergrund steht, wo viele Arbeiten dann auch in
großen Zeitschriften publiziert werden, an der
Universität ist es meistens wichtiger, diesen naturwissenschaftlichen Bereich
zu beachten, und so hat es sich in den letzten Jahren so entwickelt, dass wir
jetzt in diesem Bereich eine sogenannte personalisierte Medizin bekommen haben,
dass wir jetzt nicht nur drauf schauen, hat der einen erhöhten Blutdruck oder
erhöhte Blutfette, sondern dass wir das gesamte Bild des Patienten anschauen,
aber immer von der naturwissenschaftlichen Seite – alles, was man halt messen
kann im Blut. Auf der anderen Seite gibt es eine personenzentrierte Medizin,
die sich direkt an den Menschen wendet – das ist das, was Sie als
geisteswissenschaftlich bezeichnen würden – und nur wenn man beide Aspekte gut
abdecken kann, kann man erfahrungsgemäß einem Patienten wirklich helfen."
Man müsse
verstehen, was der Patient selbst über sein Leiden denkt, um dann gemeinsam
eine Strategie, also eine Therapie zu entwickeln, sagt Alexander Kiss:
"Jeder Patient oder jeder Mensch, der Beschwerden
hat, denkt sich irgendwie: „Was ist das überhaupt, was ich habe, was ist die
Ursache von dem, was ich habe, welche Konsequenzen hat das, kann ich das
irgendwie kontrollieren“. Banal. Und ich glaube, wenn man diese Geschichten –
das sind oft nur Teilgeschichten – auf den Tisch bekommt, dann weiß man ein
bisschen die Landkarte für diesen Patienten. Es haben tausend Patienten Bauchschmerzen,
aber die Sinnmachung, woher das kommt, wie das zusammenhängt, da gibt es
tausend Geschichten. Und die sind nicht banal, weil die beeinflussen, wie der
Patient sich verhält und was der Arzt damit macht. Und solche Geschichten muss
man explorieren."
Die
Verbindung, die zwischen Erzähler und Zuhörer entsteht, schafft Solidarität,
Verständnis und Empathie.
Geschichten, also Narrationen, begleiten uns ständig: wir denken in Geschichten, wir reden in Geschichten, wir erinnern uns anhand von Geschichten. Wir erleben etwas, denken darüber nach und geben unsere Geschichten dann mündlich oder schriftlich weiter. Wir werten und kategorisieren, verwerfen und ordnen. So verstehen wir, warum etwas wann passiert, wir entwickeln Routinen und antizipieren die Zukunft.
Geschichten, also Narrationen, begleiten uns ständig: wir denken in Geschichten, wir reden in Geschichten, wir erinnern uns anhand von Geschichten. Wir erleben etwas, denken darüber nach und geben unsere Geschichten dann mündlich oder schriftlich weiter. Wir werten und kategorisieren, verwerfen und ordnen. So verstehen wir, warum etwas wann passiert, wir entwickeln Routinen und antizipieren die Zukunft.
Kay Mühlmann
von der Donau-Universität Krems beschäftigt sich mit der Erforschung von
Narrationen. Im Bereich der Medizin ist es nun also meist so, dass der Patient seine
Geschichte erzählt. Doch müssen auch Ärzte Geschichtenerzähler sein?
"Sie müssen gute Zuhörer sein und es wäre
gut, wenn sie auch Geschichtenerzähler sein könnten, weil sie dadurch einfach
eine andere Beziehung zu ihren Patienten aufbauen können. Geschichten wirken ja
dadurch, dass man ein gemeinsames Situationsmodell aufbaut, das heißt, die
einzelnen Schemata oder die Denkstrukturen werden einfach von einem zum anderen
durch Geschichten übergeben und durch das Erzählen von Geschichten gleichen
sich die Lebenswelten aneinander an."
Die
Narrationsforschung ist eine junge Wissenschaft: sie untersucht Erzählformen,
ist vor allem in der Literaturwissenschaft zuhause. Doch auch die Wirtschaft
setzt immer stärker auf die Macht der Geschichten, im Management und in der
unternehmensinternen Kommunikation. Und auch in der Medizin können die
Wirkmechanismen, die hinter den Geschichten stecken, genutzt werden:
"Der Arzt und der Patient haben eine gemeinsame Geschichte, die anfängt
mit der Behandlung und mit dem Ende der Behandlung wieder aufhört. Im Sinne ist
die Wirkung ähnlich wie in der Psychotherapie, wo man hergeht und Geschichten,
die die Patienten einfach haben, durch Beziehung und durch das Entstehen einer
eigenen Geschichte – der Beziehungsgeschichte zwischen Therapeut und Patient
oder Arzt und Patient – anhand dieser Beziehungsgeschichte die alten
Geschichten aufrollt und neu interpretiert. So ähnlich ist es ja auch in der
Medizin, wo diese Beziehung auch einen sehr großen therapeutischen Wert hat und
die sich auch durch eine Geschichte darstellt, durch die gemeinsame Geschichte."
Auch Yvonne
Wübben, Literaturwissenschaftlerin an der Ruhr-Universität Bochum und Ärztin
der Psychiatrie, allerdings nicht praktizierend, interessiert sich für
Erzählungen. Eines ihrer Forschungsgebiete ist die Beziehung zwischen Literatur
und Medizin, sie untersucht medizinische Lehrbücher aus dem 19. und frühen 20.
Jahrhundert. Und da geht es ihr vor allem um die Bedeutung von Fallerzählungen,
die den damaligen Studierenden helfen sollten, Details besser zu memorieren und
die Krankheit in all ihren Dimensionen zu verstehen. Umgelegt auf heute, meint
Yvonne Wübben:
"Man kann jetzt hingehen und diese Kommunikation insgesamt als eine
Erzählung begreifen, diese Kommunikation zwischen Arzt und Patient, und wir Literaturwissenschaftler
würden dann Erzählmuster unterscheiden, das sind gröbere Strukturen einer
Erzählung, die bestimmten Vorgaben folgen. Das können gattungsspezifische
Vorgaben sein, wie die Tragödie, die dadurch definiert ist, dass es einen
schlechten Ausgang gibt. Es können Heldengeschichten sein, in denen es meistens
einen Kampf gibt, also Arzt und Patient gegen die Krankheit und am Ende ist
idealerweise die Überwindung von Hindernissen, von Feinden, von Krankheiten,
mit einem guten Ausgang. Ich könnte mir vorstellen, das wären so genrespezifische
Aspekte der Heldengeschichte, die in der Darstellung einer
Arzt-Patient-Kommunikation eine Rolle spielen könnten, wie man gemeinsam die
Krankheit – ich sage jetzt nicht besiegt, weil das klingt wahrscheinlich zu
pathetisch – aber, wie man mit ihr umgeht und wie man zu einem positiven Ende
kommt."
Erzählungen
helfen uns also dabei, die Wirklichkeit besser zu verstehen. Werden sie
mündlich erzählt, gibt es außerdem neben dem Inhalt zahlreiche weitere Ebenen.
"Das mündliche Gespräch kann natürlich eine ganze Reihe von Dingen
erfassen, die in der Schriftkommunikation nicht erfasst werden, dazu gehört die
Mimik, die Gestik, der Tonfall, der Ton der Stimme, wann Pausen entstehen, wann
schnell gesprochen wird, mit welcher Affektlage gesprochen wird. All so etwas
sind Dinge, die im mündlichen Gespräch vielleicht stärker eine Rolle spielen
und die in der Verschriftung nicht so auftreten oder wenn, dann müssten sie
eben extra notiert werden, das heißt, man muss sie in Worte wiederum fassen und
darstellen und beschreiben."
Für Ärzte
heißt es im Gespräch mit dem Patienten also dessen Geschichte zu verstehen, um
herauszufiltern, was tatsächlich hinter einer Krankheit steckt.
"Ich denke aber, dass es zu Recht eben
unterschiedliche Ansätze im breiten Spektrum der Medizin gibt und ich denke
auch, dass das nicht nur in der Psychotherapie und der psychosozialen Medizin
wichtig sein sollte, sondern dass man auch im Klinikalltag, also Internisten
und möglicherweise auch Chirurgen, trainieren kann stärker über die
Kommunikationsprozesse zu reflektieren, wie sie stattfinden und in welchen
Bereichen. Ob man dazu jetzt das Instrumentarium der Erzählanalyse braucht und
in welchem Maße, müsste man in der Praxis sehen. Das ist ja erstmal unabhängig
davon, wie Kommunikation funktioniert. Ich glaube nicht, dass jetzt jeder Arzt
eine ganz grundlegende literaturtheoretische Ausbildung braucht, weil wir es ja
mit komplexen Erzählungen zu tun haben und in der Regel sind es ja im
Krankenhaus nicht hochkomplexe Erzählungen wie in der Literatur. Aber ich denke
schon, dass der Blick für die Sprache und für die Geformtheit der Sprache auch
im ärztlichen Kommunikationsprozess wichtig sein kann, und dass man den
trainieren sollte."
Wie sieht es
nun aus in der Praxis, im Medizinstudium?
In der Ausbildung am Universitätsspital in Basel in der Schweiz wird der Erzählung durchaus Raum gegeben. Das nennt sich narrative-based medicine. Die Studierenden sollen eine narrative Kompetenz erwerben, sagt Chefarzt Alexander Kiss:
In der Ausbildung am Universitätsspital in Basel in der Schweiz wird der Erzählung durchaus Raum gegeben. Das nennt sich narrative-based medicine. Die Studierenden sollen eine narrative Kompetenz erwerben, sagt Chefarzt Alexander Kiss:
"Im ersten Jahr haben wir so eine Serie von Filmen, Spielfilmen, die
etwas mit Medizin zu tun haben und die laufen immer so ab: Es gibt eine kurze
Einführung, dann wird der Film gezeigt und dann versuchen wir die Studenten
anzuregen, über den Film zu diskutieren. Und da merkt man, dass derselbe Film
bei unterschiedlichen Leuten sehr unterschiedliche Resonanz hervorruft. Das ist
eine Banalität, aber in der Medizin, wo alles objektiviert ist, kann man sagen,
die Leidensgeschichte ist etwas Individuelles, was der Patient erzählt und was
der Film erzählt und wie der Zuhörer das erlebt. Und dann gibt es noch einen
Input von Medizinern, der den medizinischen Aspekt herausarbeitet. Aber was genauso
wichtig ist, dass ein Filmjournalist sagt, wie ist der Film gemacht, wie
manipuliert er, wie erzählt er, welche Farben verwendet er, wie ist die Musik –
und das Ganze mit dem Hinblick, also als Lernziel: Wir lernen in der Medizin,
dass alles eindeutig ist und das ist total wichtig, aber Patientengeschichten,
Narrationen sind unglaublich vielfältig und nicht so eindeutig. Und sich auf
diese Nicht-Eindeutigkeit der Erzählung von Filmen oder von Dichtern
einzulassen, finde ich eine interessante Sache."
Später im
Studium setzen sich die Studierenden mit literarischen Texten auseinander, es
gibt Lesungen von Schriftstellern mit anschließender Diskussion. Gegen Ende des
Studiums schreiben die Studierenden über schwierige Begegnungen mit Patienten,
hinterfragen, reflektieren und analysieren ihr eigenes Verhalten und das des
Patienten.
"In einem ärztlichen Gespräch gibt es Bereiche, wo der Arzt führt. Ganz
klar: der Zeitpunkt, der Fokus, die Exploration, Intensität usw. Was Ärzte viel
zu wenig machen ist, ganz kurz, für ein zwei Minuten, einmal den Patienten
führen zu lassen, aber immer unter seiner Kontrolle. Das sind banale Techniken,
das sind Wiederholungen, Zusammenfassungen, Pausen, Emotionen ansprechen. Das
sind alles Dinge, damit der Patient erzählen kann. Viele Ärzte fürchten sich,
weil sie das Gefühl haben, sie verlieren die Kontrolle und das Zeitmanagement
geht nicht, aber sie haben immer die Möglichkeit zu sagen „Moment, habe ich das
richtig verstanden: Das und das bewegt Sie … Ich würde Ihnen jetzt vorschlagen,
die zwei Sachen kann ich heute aufnehmen und auf meiner Agenda stehen diese und
diese Punkte … Ist das für Sie in Ordnung?“ Und die meisten Patienten lassen
sich auf so eine gemeinsame Agenda ein. Und ich glaube, da ist es enorm wichtig,
immer so Geschichten von Patienten, was jetzt momentan wichtig für sie ist, mit
hinein zu holen. Nicht dass man sie erfüllt, wie im Supermarkt, wo sie alles
haben können, sondern um mit ihnen zu verhandeln, was geht heute und was geht
heute nicht bei der Konsultation."
Zuhören und
das Wesentliche herausfiltern, das ist die große Kunst. Die Geschichte hinter
der Geschichte entdecken.
Auch in der
Ausbildung an der Medizinischen Universität Graz geht es in zahlreichen
Seminaren und Übungen ums Erzählen, sagt Josef Egger:
"In der Ausbildung versuchen wir den Studierenden beizubringen und
nahezubringen, dass Dinge, auch wenn sie nicht gesagt sind, auf den Tisch
gebracht werden können, indem man eben nachfragt. Indem man schaut, was der Patient
für Ideen, Vorstellungen, Sorgen, Wünsche mitbringt. Es ist also sehr wichtig
hier kommunikativ zu sein, also das Wort einzusetzen. Allerdings ist der Umgang
mit dem Wort, also diese kommunikative Kompetenz nicht einfach so, dass man sie
hat oder nicht hat, oder dass man relativ gut ausgestattet ins Studium kommt
und das nützt. Es kann jeder profitieren, wenn er eine entsprechende
kommunikative Ausbildung hat, weil er dann diese Grundlagen, wie man das
Gespräch als Wirkfaktor nützen kann, nicht nur versteht, sondern auch
beherrscht."
Am Beginn
des Studiums stehen Rollenspiele, in denen alltägliche Situationen geübt
werden, später werden die Situationen immer komplexer, da geht es etwa darum,
wie ein Student ein Aufklärungsgespräch über eine besonders heikle Diagnose
führt:
"Wo er zB draufkommt, Aufklärung ist kein
einmaliger Vorgang, es reicht nicht, ihm einen Zettel in die Hand zu drücken,
sondern es wird notwendig sein zu schauen, was hat denn der Patient von dieser
Information verstanden, was kann er intellektuell auflösen, und was lässt er
emotional überhaupt an sich heran, hat er die Tragweite verstanden worum es
hier geht. Wie kann man denn das kommunikativ auflösen? Wie geht es, dass die
Aufklärung über mehrere Einheiten hinweg realisiert wird? Manche Menschen sind
am Anfang überfordert, können die Tragweite nicht auf einmal erkennen, und
schon gar nicht welche Therapien und welche prognostischen Elemente hier eine
Rolle spielen. Also das braucht eine entsprechende Begleitung. Das zu erfahren,
im Rollenspiel, in der Simulation, ist ganz wichtig. Später dann sollte das in
der Realsituation, wenn sie Praktika machen, auch getestet und auf Tauglichkeit
überprüft werden. Sie sollen Erfahrungen sammeln. Wir werden beginnen mit einem
Logbuch, wo alle Arzt-Patienten-Kontakte, in unserem Fall
Studierenden-Patienten-Kontakte, gesammelt und aufgezeichnet werden, und in den
Seminaren dann auch reflektiert werden, damit jeder und jede einzelne
Studierende die Möglichkeit hat, den Fortschritt zu erkennen, was sie mit ihrer
kommunikativen Kompetenz bewerkstelligen können."
Angehende
Mediziner werden also in Sachen Kommunikation und Empathie geschult. Das
funktioniert wie gesagt im Seminarraum und ohne Zeitdruck recht gut, im
hektischen Klinik-Alltag kommen das ausführliche Gespräch und die Geschichte
zwischen Arzt und Patient oftmals viel zu kurz, sagt der Grazer Kollege Hermann
Toplak:
"Man vergisst darauf, wie wichtig dieses Element ist. Viele Visiten
laufen so ab, dass der Arzt mit dem Patienten am wenigsten redet, dass man zusammen
die Krankengeschichte, die Fieberkurve anschaut und es soll schon mal
vorgekommen sein, dass man dem Patienten gesagt hat „Ja, Kalium ist gut, sie
können morgen nach Hause gehen“. Und dem Patienten sagt das gar nichts, der
Patient möchte persönlich angesprochen werden und dafür muss eigentlich immer
Zeit sein. Schade ist, dass wir nach wie vor in der Medizin nicht genug Lehrer
haben, die das den Studierenden auch toll vorleben. Ich selber hatte das Glück
in meiner Karriere, dass ich ein zwei solche Vorbilder hatte, die das gelebt
haben, wo die Visite vielleicht ein bisschen länger gedauert hat durch diese
Kommunikation, aber ich glaube, das ist sehr sehr wichtig."
Bleibt zu
hoffen, dass die nächsten Generationen von Ärzten diese Kompetenzen ganz selbstverständlich
anwenden und später wiederum an die Jungen weitergeben werden.
"Zuerst
heile mit dem Wort, dann mit der Arznei und zum Schluss mit dem Messer",
dieser Spruch wird dem antiken Gott der Heilkunst Asklepios zugeschrieben. Im
Laufe der Jahrhunderte gab es Grabenkämpfe zwischen Natur- und
Geisteswissenschaften, heutzutage geht es wohl vor allem um eine Kombination
aus allen drei Faktoren Wort, Arznei und Messer. In der Chirurgie hat das
Messer freilich eine andere Bedeutung als in der Psychosomatik. Dort steht das
Wort im Vordergrund. Auch die Sprache der Mediziner hat sich verändert, es gab
Zeiten, da war sie stark metaphorisch, dann wieder objektiv klinisch. Heute
sind viele Patienten überinformiert, sie googeln eifrig ihre Symptome und fordern
den ihnen gegenübersitzenden Arzt dadurch stets aufs Neue heraus. Wer sich
jedoch mit Geschichten und Kommunikation beschäftigt, Techniken beherrscht und
Aussagen zu deuten weiß, ist sicherlich im Vorteil, ist Yvonne Wübben
überzeugt:
"Es ist natürlich, wenn man auf einer
Meta-Ebene über solche Erzählmuster reflektiert, sehr hilfreich, weil sich ja
daran wieder bestimmte Erwartungen binden, die sind ja oft unbewusst und man
kann sie dadurch eben bewusst machen. Und ich glaube auch für die Patienten
selber könnte es hilfreich sein sich zu überlegen, wie stelle ich mir denn
jetzt den Verlauf dieser Kommunikation mit dem Arzt konkret vor. Und das
bedeutet eben nicht mehr, dass es die Krankheit ist, die eine Geschichte hat,
wie in vielen Fallerzählungen der Psychiatrie – die Krankheit fängt an, sie hat
einen Höhepunkt, sie hat ein Ende -, sondern es ist eben der gemeinsame Umgang
mit der Krankheit, der in einer bestimmten Weise, sagen wir, erzählerisch
konturiert wird."
Zuhören,
nachfragen, erzählen - Narrationsforscher Kay Mühlmann ist überzeugt, dass
jeder Geschichten erzählen kann. Ob aber gerade Ärzte tatsächlich eine
narrative Kompetenz brauchen?
"Also prinzipiell muss man sagen: Eine
Geschichte ist eine Geschichte ist eine Geschichte, egal, in welchem Medium sie
erzählt wird. Sie wirkt immer. Ist das sinnvoll? Ich glaube schon, dass das
sinnvoll ist, weil es ist auch egal, ob es eine fiktionale oder tatsächliche
Geschichte ist, Tatsache ist, dass sich das Gehirn Geschichten einfach besser merkt
und besser damit umgehen kann und diese Realitäten besser einordnen kann. Das
heißt, mit dem emotionalen Hintergrund, den Geschichten immer haben, kann unser
Gehirn einfach viel besser umgehen und kann sich Sachverhalte viel besser
merken, als wenn ich eine Liste mit analytischen Sachverhalten habe. Natürlich
eignet sich Narration jetzt auch nicht für alles, also es ist kein
Allheilwundermittel, mit dem man jetzt jede Krankheit heilen kann."
Die
Ansprüche an die Medizin haben sich über die Jahrhunderte verändert. War es
früher sogar üblich, dem Patienten so wenig wie möglich mitzuteilen - der Arzt als
der Gott in Weiß, eine absolute und
nicht zu hinterfragende Autorität - so gilt nun der Grundsatz, dass nur ein gut
informierter Patient ein guter Patient ist, er kennt Möglichkeiten und Risiken,
er kann aktiv mitgestalten und wird in alle Entscheidungen miteingebunden.
Medizinisch-technisch ist heute bereits vieles möglich, doch dort, wo Ärzte an
Grenzen stoßen, ist das Miteinander-Reden besonders wichtig. Die Narration -
die Geschichte - die Erzählung: Sie kann dabei helfen.